Teil von ProtoZone17: Stories of those left behind, 15.11.2024-12.01.2025
Truce (2021)
“Truce” wurde in Europas größter Blutegelfarm in Gießen, Westdeutschland, und im Haus des Transgender-Aktivisten* Ryūki gedreht. Der Film zeigt das dynamische Spannungsfeld zwischen Symbiose und Parasitismus am Beispiel der Beziehung zwischen Menschen und medizinischen Blutegeln. Nachdem medizinische Egel weltweit seit Jahrtausenden therapeutisch eingesetzt wurden, wurden sie in Westeuropa zu Beginn des letzten Jahrhunderts überfischt und schließlich ausgerottet. Seitdem müssen sie importiert oder in Farmen gezüchtet werden. In der heutigen rekonstruktiven Chirurgie werden die Würmer als „nicht sterile medizinische Geräte“ bezeichnet und es ist üblich, sie nach der ersten Anwendung abzutöten. Ryūki gründete die Initiative «Leechylove», welche sich für eine artgerechte Haltung der Tiere nach der Behandlung einsetzt, da sie in freier Wildbahn bis zu 30 Jahre alt werden können. Die Blutegel des Aktivisten* ernähren sich von seinem Blut und lindern so chronische Schmerzen. Die artenübergreifende Gemeinschaft lebt in enger körperlicher Abhängigkeit, die Ryūki als Symbiose bezeichnet.
Die hermaphroditischen Würmer besitzen sowohl weibliche als auch männliche Genitalien, welche sie einzeln oder zusammen einsetzen können und dabei gleichzeitig penetrieren und penetriert werden. Die Sexualpartner*innen können sich so auch im selben sexuellen Akt schwängern. Ryūki lebt mit etwa 600 Blutegeln in seinem Haus in Bayern und bildet eine Gemeinschaft mit einem alternativen Verständnis von Genderidentität und mehr-als-menschlichen Beziehungen.
Sarah Doerfels Arbeiten beschäftigen sich mit zeitlichen und physischen Übergangszonen. Die Negation einer Grenze zu unserer Umwelt ist zentral für ihr dynamisch-relationales Verständnis von Identität. Als permanente Trans-Wesen löst sich die scheinbare Trennung zwischen Tod und Leben, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart bei näherer Betrachtung auf. Mit dem Grundprinzip der Evolution als permanentem Zustand des Wandels öffnen sich weite Türen zu narrativen Spekulationen. Zwischenzustände von Symbiose und Parasitismus, Mineral und Lebewesen, Mensch und Mehr-als-Mensch, Schmerz und Heilung stehen im Zentrum ihrer Skulpturen, Videoarbeiten und Malereien.
Doerfels Arbeiten wurden international gezeigt, u.a. im Museum Hamburger Bahnhof, Berlin, im Macro Museo Rom, und im Kunstverein München. Sie erhielt u. a. Stipendien von der Stiftung Kunstfonds, dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München und dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst. In London und München studierte sie Freie Kunst und Fotografie & Videokunst.